Mentale Gesundheit

Ein persönlicher Blick auf den inneren Kritiker

Dr. Marcel von Rauchhaupt | 10.10.2024 | Lesedauer: 4 Minuten

Wer Verantwortung für PatientInnen trägt, kennt sie: die innere Stimme, die alles in Frage stellt. Dagegen helfen Selbstfürsorge, Psychohygiene und Abgrenzung, schreibt Psychiater Marcel von Rauchhaupt.

Zum Tag der Mentalen Gesundheit haben wir doctari Facharzt Dr. Marcel von Rauchhaupt gebeten, über ein Thema zu schreiben, das ihm am Herzen liegt. Als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie weiß er um die Wichtigkeit von Psychohygiene, gerade bei Patientenkontakt. Dr. von Rauchhaupt schreibt über den inneren Kritiker, dysfunktionale Gedankengänge und die Notwendigkeit der Abgrenzung im Gesundheitswesen.

Dr. Marcel von Rauchhaupt im Portrait

Dr. Marcel von Rauchhaupt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Die unzufriedene Stimme im Kopf

Als Angestellter im Gesundheitswesen ist es nicht ungewöhnlich, sich oft mit dem inneren Kritiker auseinanderzusetzen. Dieser Kritiker ist die Stimme im Kopf, die niemals zufrieden ist, egal wie hart wir arbeiten oder wie viel wir leisten. Oftmals taucht er in den unpassendsten Momenten auf – nach einem anstrengenden Tag, wenn man erschöpft nach Hause kommt oder während einer hektischen Schicht. Er hinterfragt, ob man genug getan hat, ob jeder Patient die nötige Aufmerksamkeit erhielt, ob man wirklich alles gegeben hat. Diese ständigen Selbstzweifel können auf Dauer die eigene psychische Gesundheit beeinträchtigen.

Dysfunktionale Gedankengänge gehen oft Hand in Hand mit diesem inneren Kritiker. Als Menschen im Gesundheitswesen sind wir darauf trainiert, Fehler zu vermeiden und den Menschen vor uns in den Mittelpunkt zu stellen. Doch dies führt oft zu extremen Denkweisen wie Schwarz-Weiß-Denken – entweder man hat perfekt gearbeitet oder total versagt. Ein einziger kleiner Fehler oder eine verpasste Chance, jemanden zu unterstützen, wird als persönliches Scheitern gewertet, ohne dabei die positiven Handlungen des Tages zu berücksichtigen.

Diese Art des Denkens ist extrem belastend.

Der dysfunktionale Gedanke, dass wir als Einzelpersonen die volle Verantwortung für das Wohlergehen aller unserer Patienten tragen, führt zu einem immensen Druck. Wir sind Menschen, keine Maschinen, und dennoch fühlen wir uns oft schuldig, wenn wir Grenzen setzen müssen oder wenn eine Situation nicht nach Plan verläuft. Besonders der Glaube, dass man „stets perfekt“ sein muss, füttert diesen inneren Kritiker.

In meiner Erfahrung hat dies dazu geführt, dass ich anfing, meine eigenen Bedürfnisse zu ignorieren. Die Schichten sind lang, die emotionale Belastung groß, und der innere Kritiker fordert immer mehr. Dieser sagt mir: „Du musst stärker sein, härter arbeiten, keine Schwächen zeigen.“ Es war dieser ständige Kampf, der mich schließlich an den Rand der Erschöpfung brachte.

Ärztin spricht mit Patientin

Abgrenzen, ohne das Mitgefühl zu verlieren - das ist die Herausforderung

Selbstreflexion und die Erkenntnis über dysfunktionale Gedanken

Es hat lange gedauert, bis ich begriff, dass ich nicht immer auf meinen inneren Kritiker hören muss. Noch schwieriger war es, meine dysfunktionalen Gedankengänge zu erkennen und zu hinterfragen. Es ist leicht, in einer Gedankenspirale festzustecken, vor allem in einem Beruf, der so viel Verantwortung mit sich bringt. Doch ich habe gelernt, dass es notwendig ist, regelmäßig innezuhalten und meine Gedanken kritisch zu reflektieren. Wenn ich mich nach einem Arbeitstag frage, ob ich genug getan habe, versuche ich, objektiver zu denken. Was habe ich wirklich geleistet? Welche Faktoren lagen außerhalb meiner Kontrolle?

Die Realität ist, dass wir oft dazu neigen, nur die negativen Aspekte eines Tages zu betrachten und dabei die positiven Erfolge völlig zu ignorieren. Dies ist ein klassischer dysfunktionaler Denkprozess, der dazu führt, dass wir uns selbst sabotieren. Indem wir unsere Gedanken bewusst analysieren, können wir diese verzerrten Überzeugungen aufbrechen und realistischere Perspektiven einnehmen.

Die Notwendigkeit der Abgrenzung

Eine der größten Herausforderungen im Gesundheitswesen ist es, sich emotional abzugrenzen, ohne das Mitgefühl zu verlieren. Wir arbeiten mit Menschen in schwierigen Lebenslagen, und es ist nur natürlich, dass wir Empathie empfinden. Doch diese Empathie darf uns nicht überwältigen. Ein dysfunktionaler Gedanke, der in diesem Kontext oft auftritt, ist der Glaube, dass wir für alles verantwortlich sind. Doch das stimmt nicht. Es gibt Fälle, die wir nicht beeinflussen können, und Momente, in denen das Beste, was wir tun können, einfach nicht ausreicht. Das anzuerkennen, ist nicht leicht, aber es ist notwendig.

Abgrenzung bedeutet auch, sich Pausen zu erlauben und sich nicht schuldig zu fühlen, wenn man für sich selbst sorgt. Der innere Kritiker sagt vielleicht: „Du darfst nicht schwach sein“, aber die Wahrheit ist, dass wir nur dann für andere da sein können, wenn wir uns um uns selbst kümmern. Selbstfürsorge ist keine Schwäche, sondern eine Voraussetzung, um langfristig in diesem Beruf gesund zu bleiben.

Zwei Frauen auf einem Hundespaziergang

Bewegung an der frischen Luft oder Gespräche mit FreundInnen und KollegInnen helfen

Die Bedeutung der Psychohygiene

Um den inneren Kritiker zu bändigen und dysfunktionalen Gedankengängen entgegenzuwirken, spielt Psychohygiene eine entscheidende Rolle. Darunter versteht man alle Maßnahmen, die zur Erhaltung und Förderung der psychischen Gesundheit beitragen. Regelmäßige Selbstreflexion, das Setzen klarer Grenzen und der bewusste Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit sind essenzielle Bestandteile. Auch einfache, alltägliche Aktivitäten wie Bewegung an der frischen Luft, Hobbys wie Lesen oder Zeichnen, oder der Austausch mit Freunden und Kollegen können helfen, Stress abzubauen und die emotionale Balance zu halten. Psychohygiene ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, um langfristig im Gesundheitswesen gesund und leistungsfähig zu bleiben.

Der Weg zur Selbstakzeptanz

Der Weg, dysfunktionale Gedankengänge und den inneren Kritiker zum Schweigen zu bringen, ist nicht einfach, aber er ist möglich. Es erfordert Geduld, Selbstreflexion und die Bereitschaft, die eigenen Grenzen zu akzeptieren. Ich habe gelernt, dass ich nicht alles perfekt machen kann – und das ist in Ordnung. Selbstakzeptanz bedeutet zu erkennen, dass Fehler und Schwächen zum Menschsein gehören, auch in einem Beruf, der so viel von uns verlangt. Am Ende des Tages sind wir auch nur Menschen – und das ist genug.

Titelbild: iStock.com/CreativaImages/doctari

Autor

Dr. Marcel von Rauchhaupt

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und seit mehreren Jahren mit doctari in der Zeitarbeit unterwegs. Mentale Gesundheit ist sein Thema

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