Mitleidsmüdigkeit: Was ist das?
In letzter Zeit fragt sich der Arzt oft, was mit ihm los ist. Wenn Patientinnen und Patientin über ihre Schmerzen klagen, verspürt er Gleichgültigkeit. Manchmal reagiert er ungeduldig und gereizt. In Gedanken wertet er das Leid der Betroffenen ab. „Die soll sich mal nicht so anstellen“, denkt er und erschrickt vor sich selbst. War er früher nicht mitfühlender? Was ist passiert?
Was der Arzt empfindet, könnten Anzeichen eines Phänomens sein, das in den USA bereits bekannter ist als hierzulande. Es heißt: Compassion fatigue. Auf Deutsch übersetzt: Mitgefühlsmüdigkeit. Dabei handelt es sich um einen Zustand der inneren Abstumpfung, emotional auf Leid zu reagieren. Dazu kommt eine tiefe Erschöpfung. Betroffene arbeiten vor allem in helfenden Berufen, also als Krankenschwester, Altenpfleger, als Ärztin oder Arzt, und sind in ihrem Alltag mit extremem Leid, Gewalt, Krankheit oder Tod konfrontiert.
Der Begriff „Compassion fatigue“ kommt aus der Traumaforschung
1995 beschrieb der US-amerikanische Psychologe Charles R. Figley das Phänomen zunächst an Menschen, die in ihrem Beruf regelmäßig mit traumatisierten Patientinnen und Patienten zu tun hatten. Er beobachtete, dass einige von ihnen mit der Zeit unter ähnlich emotionalen Stress litten wie die Personen, die sie betreuten. Diesen Zustand nannte er „sekundäres Trauma“. Später nutzte er den Begriff Compassion fatigue.
Das Leid anderer mitanzusehen ist für die meisten Pflegenden sehr belastend.
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Gereiztheit und Zynismus können Symptome sein
Auch während der Hochphase der Corona-Pandemie wurde vermehrt über Mitleidsmüdigkeit berichtet. Die Überlastung des Krankenhauspersonals und die Situation, dass viele Kranke und Sterbende nicht von Ihren Angehörigen besucht werden durften, erhöhten das Risiko, Compassion fatigue zu entwickeln. Dem medizinischen Personal fehlte es an Ressourcen, den emotionalen Stress zu verarbeiten.
Symptome einer Compassion fatigue können sein:
- Fähigkeit zur Empathie ist reduziert oder fehlt
- Gefühle von Ungeduld, Gereiztheit gegenüber Kranken
- Fehlende Freude an der Arbeit
- Wut, Traurigkeit, Ängstlichkeit
- Stress, Ruhelosigkeit und Überforderung
- Schuld- und Schamgefühle, weil man kein Mitgefühl empfindet
- Leid der anderen wird abgewertet („So schlimm ist das doch nicht.“)
- Zynismus
- Schlafprobleme
- Psychosomatische Symptome (z. B. Kopfschmerzen, Schwindel)
- Rückzug, Medikamentengebrauch
ÄrztInnen und Pflegende müssen in ihrem Berufsalltag das Leid anderer aushalten.
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Fehlendes Mitgefühl ist ein Tabu
Betroffene von Mitleidsmüdigkeit sprechen oft nicht über ihr Problem, weil sie sich dafür schämen, kein Mitgefühl zu empfinden. Schließlich ist dies eine der Kernkompetenzen ihres Berufes. Doch gerade wer eine besonders ausgeprägte Fähigkeit zur Empathie mitbringt, hat ein höheres Risiko für Compassion fatigue. Denn besonders empathische Menschen empfinden das Leid eines anderen häufig wie eigenen Schmerz.
Der Versuch, solche Gefühle zu unterdrücken, um im Alltag zu funktionieren, kostet viel Energie und führt zu Erschöpfung. Studien haben ergeben, dass vor allem junge Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger betroffen sind. Das liegt auch daran, dass ihnen Erfahrung fehlt, sie höhere Erwartungen an sich selbst haben und oft noch nicht wissen, wie sie mit solchen Gefühlen umgehen sollen.
Tipps zur Selbsthilfe bei Compassion fatigue
Um einer Mitleidsmüdigkeit aktiv vorzubeugen, brauchen Menschen, die in ihrem Beruf mit Opfern von Krankheit, Tod und Gewalt in Berührung kommen, regelmäßige Auszeiten von diesen belastenden Situationen. So können sie Abstand gewinnen und das Erlebte besser verarbeiten.
Als Pflegekraft und als Ärztin oder Arzt ist eine gute Work-Life-Balance essenziell für die eigene Gesundheit. Das bedeutet, dass neben der Arbeit auch genügend Zeit für Familie, Freunde und Freizeitaktivitäten bleibt und eine strikte Abgrenzung zwischen Beruf und Privatem besteht.
Zudem können Entspannungstechniken und Achtsamkeit dabei helfen, den emotionalen Stress zu reduzieren. Gut ist es, diese Techniken oder Rituale in den Alltag zu integrieren. Das können zum Beispiel regelmäßige Meditationseinheiten, Entspannungspraktiken oder kurze Atemübungen sein. Meditations-Apps sind dabei sehr hilfreich, da sie immer greifbar sind.
Wichtig für alle Betroffenen oder Menschen mit hohem Risiko für Compassion fatigue ist auch der Austausch im Team. Wer versteht die Probleme und Sorgen besser als diejenigen, die dieselben Sorgen teilen? Manchmal kann auch eine Supervision helfen.
Beim Thema Stressabbau spielt Bewegung ebenfalls eine wichtige Rolle, denn regelmäßiger und vor allem anstrengender Sport senkt nachweislich die Menge des Stresshormons Cortisol. Zudem fördert Bewegung einen gesunden Schlaf. Wer bereits länger Anzeichen einer Compassion fatigue an sich beobachtet, sollte sich professionelle Hilfe suchen – zum Beispiel beim Hausarzt, einem Psychiater oder Psychologen.
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