Psychiater im Interview

„Normal gibt es gar nicht und sollte es auch gar nicht geben“

Sabine Stahl | 10.10.2023 | Lesedauer: 5 Minuten

Marcel von Rauchhaupt ist Psychiater und reist für doctari durch ganz Deutschland. Wir sprachen mit ihm über bewegende Momente, Scham, Tränen und Heimweh.

Warum bist du Psychiater bzw. Psychotherapeut geworden?

Im Studium lernt man etwa 40 Fachgebiete kennen und hört sich Sachen an, die einen nicht interessieren. Irgendwann kam ich in die Psychotherapie und habe sehr schnell gemerkt: Wow, das ist mal eine ganz andere Art zu arbeiten. In der Psychotherapie geht es um eine Erkrankung und einen Menschen, die jeweils ganz individuell sind und dieses Individuelle muss auch individuell behandelt werden. Das fand ich so unglaublich spannend.

Wie kamst Du in die Kinder- und Jugendpsychiatrie?

Das kam lustigerweise durch die Zeitarbeit. Da gab es Einsätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, denn Kinder-Psychiater sind rar, noch rarer als Erwachsenen-Psychiater. So bin ich dann das erste Mal in das Fachgebiet gekommen und habe gemerkt, was das für tolle junge Menschen sind. Ich bin von Haus aus Erwachsenen-Psychiater und arbeite gerne in diesem Fachgebiet, aber ich freue mich immer, wenn ich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten darf. Ich habe irgendwann gemerkt, das ist ein wunderschönes Arbeiten mit ganz, ganz tollen Menschen, die bestimmte Lebenskrisen durchleben, die man selbst vielleicht schon durchlebt hat und wo man sagt, da würde ich wahnsinnig gerne eine Stütze sein.

Gibt es etwas aus Deiner Anfangszeit, an das Du oft zurückdenkst?

Ja, an meinen ersten Chefarzt. Von ihm habe ich so viel gelernt, so viel Menschlichkeit, dass ich mir gesagt habe: Wenn ich mal richtig fertig bin, möchte ich genauso sein wie er. Ein Beispiel: Ich hatte Dienst in einer Klinik und wir waren gerappelt voll. Wir hatten praktisch kein freies Bett mehr. Da kam eine Frau mit ihrem Ehemann zu uns. Sie hat nur geweint und hat berichtet, ihr vierjähriges Kind wäre überfahren worden und sei diese Woche gestorben. Als Anfänger war das eine sehr bedrückende Situation für mich und eigentlich hätte ich der Frau sagen müssen, dass ich sie aufnehmen will, sie das auch braucht, wir aber kein Bett haben. Ich habe dann meinen Chef angerufen, ihm alles erzählt und er sagte: Sie bringen diese Frau auf meine Station, auf die Privatstation, da gibt es noch ein Bett, das letzte. Das war für einen Privatpatienten für den nächsten Tag gedacht. Doch er sagte: Den bestelle ich ab. Denn dieser Frau müssen wir helfen. Ich dachte dann: Was für ein toller Mann.

Mit welchen Herausforderungen hast Du als Psychotherapeut zu kämpfen?

In Deutschland denken viele: Wer psychisch krank ist, hat einen an der Klatsche, ist verrückt, nicht normal. Ich sage dann immer: Normal gibt es gar nicht und das sollte es auch gar nicht geben. Ein Beispiel: Ein junger Patient, 18 oder 19 Jahre alt, hatte als Erstdiagnose Paranoide Schizophrenie. Er war wahnhaft und sehr krank. Ich habe den Vater darüber aufgeklärt und er hat zu mir gesagt: Ich habe mich für meinen Sohn noch nie so geschämt.

In solchen Situationen werde ich wütend und muss den Angehhörigen erklären, dass eine psychiatrische Erkrankung nichts Schlimmes ist, dass sie jedem passieren kann und genau wie jede andere Erkrankung einer Behandlung bedarf. Scham finde ich hier wahnsinnig unpassend. Ich habe den Vater gefragt: „Was wäre, wenn Ihr Sohn Diabetes hätte, also eine Stoffwechselerkrankung der Bauchspeicheldrüse, statt seiner Stoffwechselerkrankung des Gehirns, würden Sie sich dann auch schämen?“ Sich zu schämen ist verletzend, für mich als Therapeut und für den Patienten noch viel mehr. Und deshalb ist bei meiner Arbeit die Krankheitsakzeptanz so wichtig, dass der Patient und auch die Angehörigen sehen und akzeptieren, dass es diese Erkrankung gibt und sie einer Behandlung bedarf.

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Wie kann man diese Akzeptanz fördern?

Ich finde es wichtig, dem Patienten mitzuteilen: Es ist völlig in Ordnung, wie es dir geht. Du hast ein Recht darauf, dass es dir gerade schlecht geht. Meine Räumlichkeiten sind der Ort, an dem du deine Emotionen leben und lassen darfst. Wo du deinen Schmerz zeigen darfst. Und mit diesen Emotionen möchte ich dann arbeiten. Das ist mein Fachgebiet. All das ist aber schwierig, wenn das Zeigen von Emotionen in der Gesellschaft ein Tabu ist.

Es ist noch in so viele Köpfen drin, dass ein Mann nicht weinen darf. Da sage ich meinen Patienten auch gerne mal: Wissen Sie, wann ich das letzte Mal geweint habe? Letzte Woche. Bei einem Film, war supertraurig, konnte nicht an mich halten. Ist halt passiert. Emotionen sind ja auch wunderschön. Und meine Patienten sollen merken, dass es jedem mal schlecht geht. Auch mir als Psychiater und Psychotherapeut. Auch mir ging es mal schlecht im Leben und auch ich hatte Situationen, wo ich teilweise nicht mehr weiterwusste. Wenn dann irgendwann der Patient sagt, ich habe eine psychiatrische Erkrankung, ich akzeptiere das, ich möchte behandelt werden, dann geht es halt ins richtige Arbeiten. Dann hole ich mein multimodales Team aus Ergotherapeuten, Musiktherapeuten, Kunsttherapeuten, Psychotherapeuten, das gesamte Pflegeteam, die komplette Ärzteschaft.

Du bist seit drei Jahren für doctari in Zeitarbeit tätig und arbeitest in ganz Deutschland mit unterschiedlichen Teams. Wie schwer ist das für dich?

Lustigerweise ist das einfacher, als man denken mag, obwohl ich jemand bin, der ganz schnell Heimweh hat. Das ist bei mir immer ganz furchtbar. Ich bin eine Woche nicht zu Hause und dann geht es schon los. Und dann bin ich doch immer begeistert von den ganzen Teams, die ich auf der Arbeit habe, von den Leuten, die ich kennenlerne, weil die mich dann irgendwann wahnsinnig integrieren in ihr Team. Ich habe in so vielen Städten so viele wunderbare Menschen kennengelernt. Leute, die mich aus Ahlen im Ruhrgebiet besuchen, mit denen ich jahrelang noch Kontakt halte.

In der Zeitarbeit kommst Du als fremder Mensch irgendwo in ein Team und da sind so wahnsinnig herzliche Menschen, die dich aufnehmen in ihr Team, ohne irgendwie ein Problem damit zu haben. Sie denken nicht: Oh, ein Leiharzt, der ist ja fremd und den wollen wir gar nicht. Das habe ich nie erlebt und ich bin schon so lange dabei. Ich habe immer nur die pure Freundlichkeit von so vielen Menschen kennengelernt.

Und wenn ich wieder mal Heimweh habe, dann sag ich mir: Das ist Zeitarbeit, eine tolle Arbeit an tollen Orten mit wahnsinnig tollen und wunderbaren Menschen, die mich so akzeptieren, wie ich bin. Deswegen gehe ich immer gerne auf die Arbeit.

Das gesamte Gespräch mit Marcel gibt es als Podcast „Stationäre Aufnahme“ hier.

Titelbild: doctari + iStock.com/Ninoon

Autor

Sabine Stahl

Die erfahrene Journalistin und Medizin-Redakteurin arbeitet seit 2021 in der doctari-Redaktion und beschäftigt sich am liebsten mit Ratgeber- und Statistikthemen.

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