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Das heißt, die Probleme sind der Pandemie eher nachgelagert?
Tatsächlich mussten wir in der Hochphase der Pandemie erst einmal runterfahren, ähnlich wie viele Reha-Kliniken. Erst im Laufe der Zeit kam bei der Anamnese der Kinder nicht selten heraus, dass bestimmte Probleme durch die Corona-Pandemie verstärkt wurden.
Zum Beispiel?
Im ersten Herbst hat sich gerade bei Kindern gezeigt, die vorher schon Probleme hatten, dass Corona zum Einbruch führte. Das heißt, Depressionen, Essstörungen oder Zwangserkrankungen wurden deutlich schlimmer. Ein besonders großes Problem sehe ich aber vor allem im Medienkonsum. Während der Pandemie waren viele Kids in gravierender Weise unbeaufsichtigt und sich selbst überlassen, was zu einem enormen Anstieg des Medienkonsums geführt hat. Das wird langfristig Folgen haben.
"Die Personalsituation ist katastrophal. Es fehlt überall und ständig. Und das ganz unabhängig von Corona. "
Wie schätzen Sie die Kapazitäten Ihres Fachbereichs ein, das aufzufangen?
Die Personalsituation ist katastrophal. Es fehlt überall und ständig. Und das ganz unabhängig von Corona. Ich bin sehr dankbar für die gesetzliche Bemessung von Personaluntergrenzen. Dennoch haben wir in Ausnahmesituationen Patienten aufgenommen, auch wenn nicht genug Personal da war.
Kann das Modell der Zeitarbeit in Ausnahmesituation wie der aktuellen Pandemie einen Beitrag zur Systemaufrechterhaltung leisten?
Ja. Gerade für Übergänge ist Zeitarbeit gut. Also in Situationen wie Krankheitsvertretung, Urlaubsvertretung oder in Lücken, die durch Kündigungsfristen entstehen. Damit kann Personalmangel zeitweise sehr gut überbrückt werden.
Wie erleben Sie die Wahrnehmung und Wertschätzung von Zeitarbeit in der Psychotherapie und Psychiatrie?
Das ist natürlich unterschiedlich in jeder Klinik. Aber selbst habe ich immer Dankbarkeit und Anerkennung erfahren und erlebe es als sehr positiv bewertet. In der Regel brauchen die Kliniken dringend jemand und empfangen einen mit offenen Armen.
Warum haben Sie sich persönlich für den Wechsel in die Zeitarbeit entschieden?
Zunächst wollte ich nur für ein Jahr Erfahrungen sammeln. Das hatte ich so auch mit meinem Chef besprochen. Als ich dann zurück kam in meine alte Stelle, waren die Spannungen allerdings zu groß und so bin ich bei diesem Modell geblieben. Eine Festanstellung kann ich mir im Moment auch nicht wieder vorstellen.
Warum? – Welche Vorteile ziehen sie daraus?
In einer Festanstellung ist aktuell die Arbeitsbelastung und Verantwortung zu groß und das Personal reicht nicht aus. Da ist es leichter, irgendwo auf Zeit zu sein. So kann man sich immer wieder rausnehmen und frei machen und muss sich der Klinik nicht verpflichtet fühlen. Vor allem aber sammelt man enorme Erfahrungen in unterschiedlichen Bereichen und Einrichtungen. Das hat einen hohen Wert.
Welche Folgen und Auswirkungen vermuten Sie konkret für die Zukunft?
Sobald alles wieder normal läuft, wird es dennoch einzelne geben, die langfristig Nachteile daraus ziehen könnten. Zum Beispiel Kinder, die jetzt noch sehr klein sind, die in ihrer Entwicklung auf soziale Distanz gehalten wurden. Hier weiß man noch gar nicht, welche Auswirkungen das haben wird. Aber auch Menschen, die ohnehin Probleme mit sozialer Interaktion haben, können Probleme haben, jetzt wieder hochzufahren. Das bereitet mir Sorge. Wer es geschafft hat, wird profitieren, aber wer nicht wird spüren, wie die Schere noch weiter aufgeht.
"Vor allem aber sammelt man enorme Erfahrungen in unterschiedlichen Bereichen und Einrichtungen. Das hat einen hohen Wert."
Wie verlaufen die Wechsel für Sie? Ist das nicht sehr aufwändig?
Meist bin ich für zwei, drei Monate in einer Stelle. Selten kürzer und dann nur, wenn mich die Arbeit inhaltlich sehr interessiert. Es waren aber auch schon ein bis zwei Jahre, weil es häufig zu Verlängerungen kommt. Der Wechsel ist extrem unkompliziert. Die Angebote von doctari kommen per Mail. Wenn mir etwas zusagt, regelt doctari alles für mich und sorgt auch für eine Unterkunft vor Ort. Auch die Vorstellungsgespräche sind meist nur telefonisch, da es eben nicht um eine dauerhafte Anstellung geht.
Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass es ausreichend Personal gibt und dass die Abrechnung einfacher wird. Kostendruck und Bürokratie überschatten die Arbeit leider sehr. In meinem Fachbereich müssen wir unglaublich viel dokumentieren. Ein Rückgang der Bürokratisierung wäre eine enorme Erleichterung und Entlastung für das Personal.
Vielen Dank für das Gespräch!
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Karin Greeck
Als freie Journalistin findet sie immer die richtigen Worte, um auch komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen. Spezialgebiete: spannende Interviews und Reportagen.
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