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Schon bald ließ Laennec sein Papiermodell durch ein hölzernes Rohr ersetzen – das erste Stethoskop war geboren. Es handelte sich um einen einfachen Hohlzylinder von etwa 25 Zentimetern Länge, mit einem Durchmesser von rund 2,5 Zentimetern. An beiden Enden war das Instrument leicht verbreitert, um die Schallübertragung zu verbessern. Auch wenn dieses frühe Modell noch weit entfernt von den heutigen Stethoskopen war, legte es doch den Grundstein für eine Revolution in der medizinischen Diagnostik.
Der Namen, den Laennec dem neuen Instrument gab, beschreibt perfekt seine Funktion: das Wort „Stethoskop” setzt sich aus zwei altgriechischen Wörtern zusammen:
• „stēthos“ (στῆθος) = Brust, Brustkorb
• „skopein“ (σκοπεῖν) = betrachten, untersuchen
Wörtlich übersetzt bedeutet Stethoskop also „Brustbetrachter“ oder „Brustuntersucher“. Der Begriff beschreibt damit genau den ursprünglichen Zweck des Instruments: das Abhören der Brust, der Herztöne und Atemgeräusche.
Doch die Bedeutung des Stethoskops geht weit über den bloßen mechanischen Akt des Abhörens hinaus. Laenecs Entdeckung ermöglichte es vor allem, Krankheiten wie Tuberkulose und andere Lungenerkrankungen zu diagnostizieren, die sich damals in Form von Kavernen oder Lungenhöhlen manifestierten. Sein Instrument eröffnete den Ärzten einen völlig neuen Zugang zu dem bis dato undurchdringlichen Körperinneren. Die Entdeckung der Tuberkulose-Kavernen wurde erst durch das Stethoskop möglich, da das Abhören der Atemgeräusche ein spezifisches akustisches Indiz für die Krankheit lieferte.
Doch damit nicht genug: Laennec prägte auch die Technik, mit der Ärztinnen und Ärzte fortan in Körper hineinhörten. In Anlehnung an das lateinische „auscultare“ (hören) verwendete er den Begriff „Auskultation“.
Etwa 25 Jahre nach Laennecs Erfindung entwickelte der New Yorker Arzt George P. Camman zwischen 1845 und 1855 das erste binaurale Stethoskop mit Ohrstücken. Das Modell bestand aus zwei Metallrohren mit Ohrstücken aus Elfenbein, die durch eine Art Feder miteinander verbunden waren. Zwei mit Seide überzogene Schläuche führten zu einem hölzernen Bruststück, das ausgetauscht werden konnte. Dieses Design ermöglichte es den Ärzten, klare und präzise Körpergeräusche zu hören, was die Diagnostik erheblich verbesserte. Cammanns Beitrag zur Medizintechnik war so bedeutend, dass sein Stethoskop-Design über ein Jahrhundert lang nahezu unverändert blieb und die Grundlage für die heutigen Modelle bildet.
Die Stethoskope von Laennec und Camman sind neben unzähligen anderen Modellen Teil einer Dauerausstellung über Stethoskope im Science Museum in London und können vor Ort, aber auch online besichtigt werden.
Nach der Revolution durch Cammanns binaurales Stethoskop Mitte des 19. Jahrhunderts, folgte die wahre Perfektionierung ein Jahrhundert später. David Littmann, renommierter Kardiologe und Harvard-Professor, machte das Stethoskop in den 1960er Jahren leichter, präziser und vielseitiger. Er führte ein doppelseitiges Bruststück ein, das sowohl eine Membran- als auch eine Trichterseite besaß. Diese Konstruktion ermöglichte es, durch einfaches Drehen des Bruststücks zwischen hohen und niedrigen Frequenzen zu wechseln.
Zusätzlich entwickelte Littmann die Dual-Frequency-Membran, die es ermöglicht, durch variablen Anpressdruck zwischen verschiedenen Frequenzbereichen zu wechseln, ohne das Bruststück zu drehen. Ein weiteres Upgrade: Littmanns Stethoskop wurde schlanker, leichter und damit komfortabler im Klinikalltag. Diese Innovationen machten das Littmann-Stethoskop zum Goldstandard – ein Status, den es bis heute hält.
Stehen Medizinstudierende in ihrem praktischen Jahr zum ersten Mal mit einem Stethoskop um den Hals in einem Patientenzimmer, fühlen sich viele „angekommen“. Kein anderes Instrument steht so sehr für den ärztlichen Beruf wie dieses. Kaum ein anderes Symbol markiert so klar den Übergang von der Theorie zur praktischen Medizin. Doch ein Stethoskop allein macht noch keine Diagnose. Wie klingt eigentlich ein normales Atemgeräusch? Woran erkennt man ein pathologisches Herzgeräusch? Wann ist ein zusätzlicher Herzton harmlos, wann alarmierend?
Jede Herzklappe hat ihren eigenen Auskultationspunkt. Wer sie sicher zuordnen will, muss ihre Positionen kennen und ihre Klangmuster unterscheiden lernen. Doch damit nicht genug: die Kunst des „Abhorchens“, der Auskultation, endet nicht am Thorax. Auch die Lunge will abgehört sein – es gilt, auf Giemgeräusche, Rasseln oder das Fehlen von Atemgeräuschen zu achten. Im Abdomen gibt die Peristaltik Aufschluss über die Darmaktivität. An großen Gefäßen wie der Arteria carotis können pathologische Strömungsgeräusche Hinweise auf Stenosen liefern. Wer mit dem Stethoskop arbeitet, muss lernen, genau hinzuhören – ein Handwerk, das sich nur durch Erfahrung, Wiederholung und ein geschultes Ohr meistern lässt.
„Man muss immer wieder üben, stets und ständig. Zuerst lernt man, wie Herz und Lunge klingen, wenn alles normal ist. Ich habe in der Facharztausbildung das erste Rasseln und Blubbern in der Lunge gehört”, sagt Diana Kubitzki, Dermatologin im MVZ Lobetal in Bernau.
„FachärztInnen schulen ihr Gehör entsprechend ihrer Fachrichtung. Während ein Kinderarzt mehr auf Herz und Lunge hört, sind GastrologInnen irgendwann sehr versiert darin, mit dem Stethoskop Bauchgeräusche zu erkennen”, sagt Peter Heinrich, Facharzt für Innere Medizin mit eigener Hausarztpraxis in Berlin-Prenzlauer Berg.
„Ich kann das Stethoskop überall am Körper anlegen und sofort Unregelmäßigkeiten heraushören. Das kann eine Lungenentzündung sein, Asthma, eine chronische Bronchitis oder eine Herzrhythmusstörungen. Auch bei Bauchschmerzen bringt das Stethoskop schnell Klarheit. Sind die Darmgeräusche hochgestellt und klingen metallisch, deutet alles auf einen Darmverschluss hin und der Patient muss schnell ins Krankenhaus. Selbst bei den Strömungsgeräuschen in der Halsschlagader kann ich mit einem so unscheinbaren Gerät Verengungen heraushören”, so Heinrich weiter.
Nicht jedes Stethoskop ist gleich – und nicht jede Arztpraxis braucht dasselbe Modell. In der Hausarztpraxis zählt vor allem Vielseitigkeit: Ein gutes Allround-Stethoskop muss zuverlässig Herz-, Lungen- und Darmgeräusche abbilden, ohne auf ein einziges Spezialgebiet zugeschnitten zu sein. Es sollte robust, leicht und für den täglichen Gebrauch geeignet sein – ideal für Check-ups und Routineuntersuchungen.
In der Kardiologie sieht die Sache anders aus. Hier kommen hochpräzise Modelle mit verstärkter Akustik und besonders empfindlichen Membranen zum Einsatz. Sie erfassen feinste Herzgeräusche – von leisen Strömungsgeräuschen bis hin zu kaum hörbaren Klappenfehlern. In Spezialkliniken setzen Ärztinnen und Ärzte zunehmend auf digitale Varianten, die Töne verstärken, filtern und sogar aufzeichnen können. So lassen sich Herzgeräusche nicht nur genauer analysieren, sondern auch langfristig vergleichen.
Stethoskope sind jedoch nicht nur medizinische Instrumente – sie können auch Türöffner sein. Besonders in der Hausarztpraxis, in die Patientinnen und Patienten häufig mit Ängsten oder Unsicherheiten zum ersten Gespräch kommen, ist das Stethoskop mehr als nur ein Diagnosewerkzeug. Es ist der Moment, in dem der Arzt oder die Ärztin das erste Mal aktiv mit dem Patienten in Kontakt tritt – ohne dabei physisch aufdringlich zu sein.
„Man ist schon sehr nah dran und hat dadurch eine ganz besondere Nähe zu den Patienten. Das Abhören ist ein sehr feinfühliger und stiller Moment. Ein Moment, in dem das Stethoskop einen besonderen Moment des Vertrauens schafft“, sagt Diana Kubitzki.
Der einfache Akt, das Stethoskop anzulegen, signalisiert den Patientinnen und Patienten nicht nur, dass sie ernst genommen werden, sondern auch, dass der Arzt oder die Ärztin sich aktiv auf sie einstellt. Gleichzeitig ist es ein Schritt, um die Diagnose zu untermauern. Durch die visuellen Beobachtungen, die sich beim Auflegen des Stethoskop ergeben:
„Dadurch, dass sich die PatientInnen ausziehen, sehen wir Dinge, die wir sonst nicht sehen würden. Das können Hautveränderungen sein, Ödeme oder Zyanosen. Manch einem sehe ich schon am Türrahmen aufgrund seiner Gesichtsfarbe an, dass es ihm gerade richtig schlecht geht und er schnell Hilfe braucht“, sagt Peter Heinrich.
Die Integration von künstlicher Intelligenz in die klinische Praxis eröffnet neue Dimensionen der Diagnostik. Insbesondere intelligente Stethoskope, die auf diese Technologien zurückgreifen, gewinnen an Bedeutung. Diese Geräte analysieren Herz- und Lungengeräusche in Echtzeit, erkennen abnormale Muster und erstellen strukturierte Befunde. Einige dieser Systeme erreichen in Studien eine Erkennungsrate von bis zu 94 Prozent bei der Identifikation von Herzgeräuschen – ein vielversprechendes Potenzial für die frühzeitige Erkennung von Herzkrankheiten.
Auch die Analyse von Lungengeräuschen mittels KI hat bereits signifikante Fortschritte erzielt. Doch trotz dieser positiven Entwicklungen bleibt die Technologie einer kritischen Prüfung unterzogen. Ihre vollständige Integration in die klinische Praxis erfordert weitere Studien und die kontinuierliche Anpassung an die Bedürfnisse des medizinischen Alltags.
In Zukunft könnten ÄrztInnen ihren PatientInnen tragbare Diagnosetools mit nach Hause geben, die eine kontinuierliche Überwachung von Gesundheitsparametern ermöglichen. Denkbar sind smarte Stethoskope oder Sensorpflaster, die über Fernübertragung Herztöne, Atemgeräusche oder sogar Lungenfunktionen in Echtzeit überwachen. Diese Geräte könnten dazu beitragen, frühzeitig Herzrhythmusstörungen, Atemaussetzer oder auch neurologische Auffälligkeiten zu identifizieren, lange bevor Symptome auftreten.
Peter Heinrich betrachtet diese Entwicklung positiv und skeptisch gleichermaßen: „Es wäre nicht gut, wenn man den Stecker zieht und dann ist man kein Arzt mehr. Auch eine KI wird nur von dem gefüttert, was man ihr beibringt. Ich bin aber sicher, dass besonders in der Radiologie oder der Histologie die KI zunehmend ergänzend genutzt wird“, sagt der Facharzt für Innere Medizin.
Trotz dieser digitalen Fortschritte bleibt das Stethoskop nicht nur ein diagnostisches Werkzeug, sondern auch ein Symbol ärztlicher Zuwendung. Inmitten automatisierter Routinen bewahrt es den persönlichen Kontakt, der in der medizinischen Behandlung weiterhin zentral bleibt.
„Ich kann mir eine Ärztin oder einen Arzt auch in 100 Jahren nicht ohne Stethoskop vorstellen. Es ist und bleibt ein unverzichtbares Arbeitsinstrument, weil es einfach, schnell und zuverlässig ist. Als Hausarzt wäre ich ohne Stethoskop quasi amputiert. Stellen Sie sich einen Maurer ohne Kelle vor, einen Ohrenarzt ohne seinen Spiegel, einen Augenarzt ohne Spaltlampe. Wir können mit diesem unscheinbaren Werkzeug zusammen mit unseren Beobachtungen, Fragen und vielleicht noch dem Blutdruckmessgerät recht schnell eine zuverlässige Diagnose stellen“, sagt Peter Heinrich. Auch im digitalen Zeitalter bleibt das Stethoskop somit ein zentrales Element ärztlicher Identität.
Titelbild: iStock.com/FatCamera
Eileen Geibig
Eileen ist freie Texterin mit einem Faible dafür, komplexe Themen auf den Punkt zu bringen und dabei die Menschen hinter der Geschichte sichtbar zu machen. Ihre Spezialität sind fundierte Artikel, lebendige Porträts und inspirierendes Storytelling.
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