Im Pflegealltag müssen Pflegefachkräfte oft schwierige Entscheidungen treffen. Hier können die Prinzipien der Pflegeethik helfen.
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Ethische Entscheidungen in der Pflege lassen sich oft nicht „aus dem Bauch heraus“ treffen – zumindest nicht, wenn sie tragfähig und nachvollziehbar sein sollen. In komplexen Situationen kann ein festgelegtes System dabei helfen, die beste Entscheidung zu treffen und die eigenen moralischen Überlegungen zu strukturieren.
Ein bewährter Ansatz ist das sogenannte Prinzipienmodell nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress. Es basiert auf vier grundlegenden ethischen Prinzipien: Respekt vor der Autonomie, Fürsorge bzw. Wohltun, Nicht-Schaden sowie Gerechtigkeit. Diese Prinzipien stehen gleichberechtigt nebeneinander, können aber in einer konkreten Situation miteinander in Konflikt geraten.
Die Herausforderung in der Praxis besteht darin, die einzelnen Prinzipien gegeneinander abzuwägen und auf den individuellen Fall anzuwenden. So kann etwa der Wunsch eines Patienten nach Selbstbestimmung mit der Pflicht kollidieren, gesundheitlichen Schaden zu vermeiden. Das Prinzipienmodell hilft, diese Konflikte transparent zu machen und zu einer begründeten Entscheidung zu kommen.
Diese Prinzipien liefern keine Patentlösungen. Sie sollen Pflegekräften aber dabei helfen, in schwierigen Situationen gute und gerechte Entscheidungen treffen zu können und die verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen.
Ethische Spannungen entstehen in der Pflege häufig in Situationen, in denen verschiedene Werte und Bedürfnisse aufeinandertreffen. Ein besonders schwieriges Thema ist etwa die Frage, wie lange lebensverlängernde Maßnahmen fortgeführt werden sollen, wenn die Patientin oder der Patient nicht mehr in der Lage ist, den eigenen Willen zu äußern.
Liegt keine Patientenverfügung vor oder ist sie unklar formuliert, geraten Pflegefachkräfte schnell in ein Spannungsfeld. Dabei ist die Entscheidung, ob und wie intensiv eine Behandlung fortgesetzt werden sollte, nicht nur medizinisch und juristisch zu treffen, sondern auch unter ethischen Gesichtspunkten.
Ein weiteres häufiges Konfliktfeld betrifft freiheitsentziehende Maßnahmen (FeM), beispielsweise Fixierungen bei desorientierten oder sturzgefährdeten Personen. Auch wenn sie dem Schutz des Patienten oder der Patientin dienen, können sie der Selbstbestimmung widersprechen. Pflegefachkräfte müssen dann zwischen Sicherheit und Autonomie abwägen – oft unter Zeitdruck.
Eine weitere schwierige Aufgabe im Pflegealltag ist die gerechte Verteilung von Pflegezeit. Wenn der Personalschlüssel knapp ist und nicht alle Patientinnen und Patienten die nötige Aufmerksamkeit erhalten können, entsteht die Frage, wer in einer bestimmten Situation mehr Zuwendung bekommen sollte.
Nicht selten entstehen ethische Dilemmata auch im Zusammenspiel mit Angehörigen. Diese haben meist eine klare Vorstellung davon, was für ihre Familienmitglieder richtig erscheint – etwa in Bezug auf Schmerztherapie, Mobilisierung oder Ernährung. Diese Vorstellungen können jedoch von dem abweichen, was Pflegefachkräfte aus ihrer professionellen Perspektive für angemessen oder notwendig halten oder auch von dem, was der Betroffene oder die Betroffene möchte. Auch hier können die vier Prinzipien der Ethik helfen.
Diese Fallbeispiele zeigen: Ethik in der Pflege ist vielschichtig. Pflegekräfte müssen in heiklen Situationen oft über das rein Praktische hinausdenken und sich immer wieder neu mit dem auseinanderzusetzen, was gutes und verantwortungsvolles Handeln in einer konkreten Situation bedeuten kann.
Neben den vier Prinzipien der Ethik kommen in der Praxis auch strukturierte Modelle wie die ethische Fallbesprechung zum Einsatz. Dabei wird ein ethisches Dilemma gemeinsam im Team besprochen – idealerweise in einem interdisziplinären Team aus Pflegekräften, Ärztinnen und Ärzten sowie weiteren Beteiligten.
Die Fallbesprechung folgt einem festgelegten Ablauf, der zunächst die Klärung der Fakten umfasst, danach die ethische Bewertung und schließlich das gemeinsame Erarbeiten möglicher Handlungsoptionen. Eine solche Reflexion im Team kann dazu beitragen, moralische Intuitionen in Worte zu fassen, blinde Flecken zu erkennen und gemeinsam tragfähige Entscheidungen zu entwickeln.
Auch die „klinische Ethikberatung“ gewinnt zunehmend an Bedeutung. Sie bietet Pflegenden und anderen Berufsgruppen eine externe Anlaufstelle, wenn Entscheidungen besonders komplex oder konflikthaft sind. Ethikberaterinnen und -berater unterstützen dabei, das Problem systematisch zu analysieren und mögliche Lösungswege zu entwickeln – ohne selbst die Entscheidung zu treffen. Vielmehr steht das Ziel im Vordergrund, die Beteiligten zu einer eigenen fundierten Entscheidung zu befähigen.
Diese Verfahren haben gemeinsam, dass sie ethisches Nachdenken professionalisieren – also aus dem diffusen Gefühl eines moralischen Dilemmas heraus in eine strukturierte, reflektierte Auseinandersetzung führen. Gerade im Pflegealltag, der oft von Zeitdruck und emotionaler Belastung geprägt ist, schaffen sie Raum für einen bewussten Umgang mit ethischen Herausforderungen und stärken langfristig die Handlungssicherheit.
Ethisches Handeln in der Pflege ist kein Zusatz, sondern ein elementarer Bestandteil professioneller Praxis. Es erfordert neben Fachwissen auch die Bereitschaft zur Selbstreflexion und zur Auseinandersetzung mit komplexen moralischen Fragen. Die Fähigkeit, Spannungen zwischen persönlichen Überzeugungen, institutionellen Vorgaben und den Bedürfnissen der betreuten Menschen wahrzunehmen und zu bearbeiten, ist ein zentrales Merkmal beruflicher Pflegekompetenz. Diese Kompetenz wächst mit der Erfahrung – aber auch mit gezielter Auseinandersetzung in Fortbildungen, Supervisionen oder kollegialem Austausch.
Ethik gehört zu Pflegeberuf – nicht nur bei medizinischen Grenzsituationen, sondern auch im täglichen Umgang mit vulnerablen Menschen. Die professionelle Pflege steht dabei vor der Herausforderung, gute Entscheidungen unter oft widrigen Bedingungen zu treffen. Eine fundierte Auseinandersetzung mit pflegeethischen Fragen kann helfen, innere Klarheit zu gewinnen, moralischen Stress zu reduzieren und die Qualität der Pflege nachhaltig zu stärken.
Was versteht man unter Ethik in der Pflege?
Ethik in der Pflege bezieht sich auf die moralischen Werte und Prinzipien, die pflegerisches Handeln leiten. Sie hilft dabei, verantwortungsvolle Entscheidungen im Umgang mit Patientinnen und Patienten zu treffen.
Was sind die 4 Grundprinzipien der Ethik?
Die vier Grundprinzipien sind: Autonomie (Selbstbestimmung achten), Fürsorge (Gutes tun), Nicht-Schaden (Schaden vermeiden) und Gerechtigkeit (fairer Umgang mit allen Beteiligten).
Was ist Ethik einfach erklärt?
Ethik ist die Lehre vom richtigen Handeln. Sie beschäftigt sich mit der Frage, was gut, gerecht oder moralisch richtig ist – besonders in schwierigen Entscheidungssituationen.
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Sabine Stahl
Die erfahrene Journalistin und Medizin-Redakteurin arbeitet seit 2021 in der doctari-Redaktion und beschäftigt sich am liebsten mit Ratgeber- und Statistikthemen.
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