Pflegeethik

Ethik in der Pflege: Meist gibt es weder Richtig noch Falsch

Ethik in der Pflege: Schwierige Entscheidungen gehören für Pflegekräfte zum Alltag
Sabine Stahl | 9.4.2025 | Lesedauer: 6 Minuten

Ethik in der Pflege bedeutet, schwierige Entscheidungen verantwortungsvoll zu treffen. Aus diesem Grund wird moralische Kompetenz im Pflegealltag immer wichtiger.

Zwischen Herz, Verstand und Verantwortung

Spätschicht auf einer internistischen Station. Eine 85-jährige Patientin liegt in ihrem Bett und muss beatmet werden. Sie zieht sich immer wieder die Magensonde heraus und sagt, dass sie „nicht mehr möchte“. Gleichzeitig bestehen die Angehörigen darauf, dass alles medizinisch Mögliche getan wird. Die Ärztin ordnet eine Fixierung an. Die Pflegefach auf der Station denkt: Ist das richtig? Soll dem Wunsch der Patientin nachgekommen werden oder dem der Familie? Wie ist mit der ärztlichen Anordnung umzugehen?

Im Alltag von Pflegefachkräfte kommt es regelmäßig zu Situationen, in denen es kein klares „Richtig“ oder „Falsch“ gibt. In denen Fragen aufkommen, die nicht allein durch rechtliche oder fachliche Vorgaben beantwortet werden können. Hier kann fundiertes Wissen aus dem Bereich Ethik in der Pflege helfen, eine Entscheidung zu treffen und verantwortungsvoll zu handeln.

Was ist Ethik in der Pflege?

Ethik ist mehr als ein abstrakter Begriff aus dem Philosophieunterricht. Sie beginnt dort, wo Pflegefachkräfte Entscheidungen treffen, wo unterschiedliche Interessen, Werte und Bedürfnisse kollidieren. Sie stellt Fragen nach dem guten, gerechten und verantwortbaren Umgang mit Patientinnen und Patienten – insbesondere in Situationen, in denen diese ihre eigenen Wünsche nicht mehr äußern können.

Das Thema Ethik in der Pflege wird jedoch nicht nur in dramatischen Entscheidungssituationen wichtig. Es durchzieht den gesamten Arbeitsalltag von Gesundheits- und KrankenpflegerInnen und AltenpflegerInnen, beginnend bei der Körperpflege über die Kommunikation mit Angehörigen bis hin zur Begleitung Sterbender. Gerade in einem zunehmend ökonomisierten und durch Zeitdruck geprägten Gesundheitssystem steigt die Bedeutung von ethischer Kompetenz von Pflegefachkräften.

Pflegekraft sitzt kraftlos auf der Couch

Im Pflegealltag müssen Pflegefachkräfte oft schwierige Entscheidungen treffen. Hier können die Prinzipien der Pflegeethik helfen.

Die vier Prinzipien der Pflegeethik

Ethische Entscheidungen in der Pflege lassen sich oft nicht „aus dem Bauch heraus“ treffen – zumindest nicht, wenn sie tragfähig und nachvollziehbar sein sollen. In komplexen Situationen kann ein festgelegtes System dabei helfen, die beste Entscheidung zu treffen und die eigenen moralischen Überlegungen zu strukturieren.

Ein bewährter Ansatz ist das sogenannte Prinzipienmodell nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress. Es basiert auf vier grundlegenden ethischen Prinzipien: Respekt vor der Autonomie, Fürsorge bzw. Wohltun, Nicht-Schaden sowie Gerechtigkeit. Diese Prinzipien stehen gleichberechtigt nebeneinander, können aber in einer konkreten Situation miteinander in Konflikt geraten.

Die Herausforderung in der Praxis besteht darin, die einzelnen Prinzipien gegeneinander abzuwägen und auf den individuellen Fall anzuwenden. So kann etwa der Wunsch eines Patienten nach Selbstbestimmung mit der Pflicht kollidieren, gesundheitlichen Schaden zu vermeiden. Das Prinzipienmodell hilft, diese Konflikte transparent zu machen und zu einer begründeten Entscheidung zu kommen.

Die vier zentralen Prinzipien lauten

  • Autonomie: Hier steht die Selbstbestimmung der Patientin oder des Patienten im Zentrum. Für Pflegefachkräfte bedeutet das, dass individuelle Entscheidungen respektiert werden müssen. Sollten Wünsche nicht mehr geäußert werden können, liefert eine Patientenverfügung wichtige Informationen.
  • Nicht-Schaden (Non-Malefizienz): Pflegende müssen Schaden von ihren Patientinnen und Patienten fernhalten. Das gilt für körperliche und für seelische Schäden. Das schließt auch unterlassene Maßnahmen mit ein.
  • Fürsorge/Wohltun (Benefizienz): Pflegefachkräfte sollen das Wohl der betreuten Menschen aktiv fördern. Dieses Prinzip steht oft im Spannungsfeld zur Autonomie, etwa bei demenziell erkrankten Menschen.
  • Gerechtigkeit: Pflegeleistungen sollten fair und unabhängig von Alter, Herkunft oder sozialem Status erbracht werden. In der Praxis bedeutet das auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Verteilung knapper Ressourcen.

Diese Prinzipien liefern keine Patentlösungen. Sie sollen Pflegekräften aber dabei helfen, in schwierigen Situationen gute und gerechte Entscheidungen treffen zu können und die verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen.

Ethik in der Pflege: Fallbeispiele

Ethische Spannungen entstehen in der Pflege häufig in Situationen, in denen verschiedene Werte und Bedürfnisse aufeinandertreffen. Ein besonders schwieriges Thema ist etwa die Frage, wie lange lebensverlängernde Maßnahmen fortgeführt werden sollen, wenn die Patientin oder der Patient nicht mehr in der Lage ist, den eigenen Willen zu äußern.

Beispiel 1: Der Wille der Patientin oder des Patienten

Liegt keine Patientenverfügung vor oder ist sie unklar formuliert, geraten Pflegefachkräfte schnell in ein Spannungsfeld. Dabei ist die Entscheidung, ob und wie intensiv eine Behandlung fortgesetzt werden sollte, nicht nur medizinisch und juristisch zu treffen, sondern auch unter ethischen Gesichtspunkten.

Beispiel 2: Schutz oder Autonomie?

Ein weiteres häufiges Konfliktfeld betrifft freiheitsentziehende Maßnahmen (FeM), beispielsweise Fixierungen bei desorientierten oder sturzgefährdeten Personen. Auch wenn sie dem Schutz des Patienten oder der Patientin dienen, können sie der Selbstbestimmung widersprechen. Pflegefachkräfte müssen dann zwischen Sicherheit und Autonomie abwägen – oft unter Zeitdruck.

Beispiel 3: Zu wenig Zeit

Eine weitere schwierige Aufgabe im Pflegealltag ist die gerechte Verteilung von Pflegezeit. Wenn der Personalschlüssel knapp ist und nicht alle Patientinnen und Patienten die nötige Aufmerksamkeit erhalten können, entsteht die Frage, wer in einer bestimmten Situation mehr Zuwendung bekommen sollte.

Beispiel 4: Die Angehörigen

Nicht selten entstehen ethische Dilemmata auch im Zusammenspiel mit Angehörigen. Diese haben meist eine klare Vorstellung davon, was für ihre Familienmitglieder richtig erscheint – etwa in Bezug auf Schmerztherapie, Mobilisierung oder Ernährung. Diese Vorstellungen können jedoch von dem abweichen, was Pflegefachkräfte aus ihrer professionellen Perspektive für angemessen oder notwendig halten oder auch von dem, was der Betroffene oder die Betroffene möchte. Auch hier können die vier Prinzipien der Ethik helfen.

Diese Fallbeispiele zeigen: Ethik in der Pflege ist vielschichtig. Pflegekräfte müssen in heiklen Situationen oft über das rein Praktische hinausdenken und sich immer wieder neu mit dem auseinanderzusetzen, was gutes und verantwortungsvolles Handeln in einer konkreten Situation bedeuten kann.

Der richtige Umgang mit Angehörigen ist oft nicht leicht. Hier gibt es Tipps!

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Systematische ethische Entscheidungsfindung

Neben den vier Prinzipien der Ethik kommen in der Praxis auch strukturierte Modelle wie die ethische Fallbesprechung zum Einsatz. Dabei wird ein ethisches Dilemma gemeinsam im Team besprochen – idealerweise in einem interdisziplinären Team aus Pflegekräften, Ärztinnen und Ärzten sowie weiteren Beteiligten.

Die Fallbesprechung folgt einem festgelegten Ablauf, der zunächst die Klärung der Fakten umfasst, danach die ethische Bewertung und schließlich das gemeinsame Erarbeiten möglicher Handlungsoptionen. Eine solche Reflexion im Team kann dazu beitragen, moralische Intuitionen in Worte zu fassen, blinde Flecken zu erkennen und gemeinsam tragfähige Entscheidungen zu entwickeln.

Auch die „klinische Ethikberatung“ gewinnt zunehmend an Bedeutung. Sie bietet Pflegenden und anderen Berufsgruppen eine externe Anlaufstelle, wenn Entscheidungen besonders komplex oder konflikthaft sind. Ethikberaterinnen und -berater unterstützen dabei, das Problem systematisch zu analysieren und mögliche Lösungswege zu entwickeln – ohne selbst die Entscheidung zu treffen. Vielmehr steht das Ziel im Vordergrund, die Beteiligten zu einer eigenen fundierten Entscheidung zu befähigen.

Diese Verfahren haben gemeinsam, dass sie ethisches Nachdenken professionalisieren – also aus dem diffusen Gefühl eines moralischen Dilemmas heraus in eine strukturierte, reflektierte Auseinandersetzung führen. Gerade im Pflegealltag, der oft von Zeitdruck und emotionaler Belastung geprägt ist, schaffen sie Raum für einen bewussten Umgang mit ethischen Herausforderungen und stärken langfristig die Handlungssicherheit.

Ethische Kompetenz als Teil professionellen Handelns

Ethisches Handeln in der Pflege ist kein Zusatz, sondern ein elementarer Bestandteil professioneller Praxis. Es erfordert neben Fachwissen auch die Bereitschaft zur Selbstreflexion und zur Auseinandersetzung mit komplexen moralischen Fragen. Die Fähigkeit, Spannungen zwischen persönlichen Überzeugungen, institutionellen Vorgaben und den Bedürfnissen der betreuten Menschen wahrzunehmen und zu bearbeiten, ist ein zentrales Merkmal beruflicher Pflegekompetenz. Diese Kompetenz wächst mit der Erfahrung – aber auch mit gezielter Auseinandersetzung in Fortbildungen, Supervisionen oder kollegialem Austausch.

Fazit zur Ethik in der Pflege

Ethik gehört zu Pflegeberuf – nicht nur bei medizinischen Grenzsituationen, sondern auch im täglichen Umgang mit vulnerablen Menschen. Die professionelle Pflege steht dabei vor der Herausforderung, gute Entscheidungen unter oft widrigen Bedingungen zu treffen. Eine fundierte Auseinandersetzung mit pflegeethischen Fragen kann helfen, innere Klarheit zu gewinnen, moralischen Stress zu reduzieren und die Qualität der Pflege nachhaltig zu stärken.

Weitere Fragen

Was versteht man unter Ethik in der Pflege?

Ethik in der Pflege bezieht sich auf die moralischen Werte und Prinzipien, die pflegerisches Handeln leiten. Sie hilft dabei, verantwortungsvolle Entscheidungen im Umgang mit Patientinnen und Patienten zu treffen.

Was sind die 4 Grundprinzipien der Ethik?

Die vier Grundprinzipien sind: Autonomie (Selbstbestimmung achten), Fürsorge (Gutes tun), Nicht-Schaden (Schaden vermeiden) und Gerechtigkeit (fairer Umgang mit allen Beteiligten).

Was ist Ethik einfach erklärt?

Ethik ist die Lehre vom richtigen Handeln. Sie beschäftigt sich mit der Frage, was gut, gerecht oder moralisch richtig ist – besonders in schwierigen Entscheidungssituationen.

Titelbild: iStock.com/saifulasmee chede

Autor

Sabine Stahl

Die erfahrene Journalistin und Medizin-Redakteurin arbeitet seit 2021 in der doctari-Redaktion und beschäftigt sich am liebsten mit Ratgeber- und Statistikthemen.

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